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Frank Richter - 1a-faksimile
 

Wiener Musterbuch

 


Das Wiener Musterbuch, das in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien liegt, besteht aus 56 weiß und rot getönten Federzeichnungen auf grünlichem Papier. Diese sind  montiert auf zusammenklappbaren Holztäfelchen, die jeweils 9,5cm hoch und 9 cm breit sind und werden in einem Lederfutteral aufbewahrt. Insgesamt sind auf 14 Ahorntäfelchen 56 farbig Silberstiftzeichnungen.

Das entzückende Kleinod entstand um 1410-20 in Böhmen oder Österreich und diente einem unbekannten Wanderkünstler als Mustersammlung. Die Darstellungen, darunter 39 Köpfe bzw. Brustbilder sowie Tiere und Fabelwesen, zeigen Einflüsse aus Böhmen, Frankreich und Italien und geben damit einen umfangreichen internationalen Eindruck.

Die Täfelchen aus Schloss Ambras im Wiener Kunsthistorischen Museum:
Musterbuch oder Virtuosenstück eines böhmischen Künstlers des frühen 15. Jahrhunderts.

Aus der Kunstkammer von Schloss Ambras, in Tirol, wo es dem Inventar des Erzherzogs Ferdinand von Tirol zufolge spätestens seit 1596 aufbewahrt wurde, stammt ein Objekt im Wiener Kunsthistorischen Museum, von dem wir nicht einmal recht wissen, wie wir es nennen sollen: In einem kostbaren dunklen Lederschnittkasten sind vierzehn beinahe quadratische Täfelchen aus Ahornholz geborgen, die einst alle durch Pergamentstreifen zu einem Faltbuch, also einem Leporello verbunden waren. Jedes Täfelchen, 95 x 90 mm groß, ist durch Holzstege in vier Quadrate geteilt; in diese wiederum quadratischen Felder, die ein wenig tiefer liegen, wurde grün grundiertes Papier mit fünfundfünfzig hinreißenden Köpfen von Mensch und Tier und einer ganzfigurigen Darstellung - einer Spinne! - eingelegt.

Bis auf zwei Köpfe, die sich technisch wie farblich abheben und einem etwas jüngeren Künstler verdankt werden, scheint der gesamte Bestand aus einem Guss, von einer Hand und in kurzem Zeitraum geschaffen zu sein. Was später zu den Kostbarkeiten einer der schönsten fürstlichen Kunstkammern wurde, war schon von Beginn an etwas Prächtiges, sorgfältig angelegt und kostbar im Lederschnittkästchen geborgen. Aber es diente offenbar in einer ganz anderen Sphäre; es diente nämlich einem Künstler: Als Musterbuch bezeichnet man es heute oft, weil es so einzigartig ist, dass man keinen eigenen Begriff dafür gebildet hat.

Nicht ganz unsinnig ist es, von der Form des Faltbuchs aus einen Moment an jenen Leporello zu denken, dem solche Bücher ihren Namen verdanken: Don Giovannis Diener nimmt ein Faltbuch heraus und brüstet sich mit seinem Herrn, der so unwiderstehlich sei, das ihm in Spanien sogar Tausendunddrei Frauen zu Willen gewesen seien. Man stelle sich den Künstler vor, wie er das Faltbuch aus kleinen Holztäfelchen zückt, um den Leuten zu zeigen, was er selbst für ein Kerl ist: Er blättert auf, was er alles treffend darstellen kann! Das tut er anhand von brillanten farbigen Zeichnungen auf einem alles verfremdenden grüngrauen Grund, der die kleinen Bildmotive brillant hervorstechen lässt.

Nicht Kompositionen führt der Künstler vor, auch wenn manche Köpfe wie Maria, der Gekreuzigte und der trauernde Johannes aus Hauptbildern der Heilgeschichte stammen. Vielmehr brilliert er mit Köpfen allein - und schockt am Ende der Menschenhäupter mit einem Totenkopf und nach Bildern von Tieren aus der Natur und dem Fabelwesen zum Schluss mit einer Spinne. Es war die Zeit, in der sich auch nördlich der Alpen die bildende Kunst langsam aus einer Starre löste, die endlich Naturbeobachtung zuließ und sogar forderte. Dabei spielte der Kopf mit seiner Ausdrucksstärke ganz offenbar eine neue entscheidende Rolle; das wenigstens beweist die Mustersammlung, die eben nichts als Musterbuch, sondern als eine Demonstration breiten Könnens konzipiert war.

Der Meister ist wie die meisten seiner Zeitgenossen für uns namenlos. Er stammt aus Böhmen; ob er jedoch dort seine Meisterschaft unter Beweis stellte, bleibt unklar. Die Formen und die Machart der Zeichnungen mit der raffinierten Höhung verweisen ebenso wie die Frisuren und die Arten von Kopfputz auf das frühe 15. Jahrhundert. Das aber war die Zeit, in der Böhmen durch Johann Hus in Unruhe geraten war und durch dessen grausamen Feuertod auf dem Konzil zu Konstanz in einen langjährigen Bürgerkrieg gestürzt wurde.

Manch ein Künstler kehrte seiner Heimat den Rücken; und es ist nicht auszuschließen, dass das Leporello in diesem Zusammenhang entstanden ist. Es kündet von einer hohen höfischen Kunst, die vor allem darauf ausgerichtet, Erstaunen zu erwecken. Es will für seinen Schöpfer werben und zwar so, dass man ihn für die unterschiedlichsten Zwecke einsetzen könnte, spannt sich der Bogen des darin enthaltenen gestalterischen Angebots von der Kreuzigung Christi und deren Hauptfiguren bis hin zu wilden Tieren und der besagten Spinne.

Sogar ein eigentümliches Hauptmotiv der frühen Theorie zur bildenden Kunst wird hier beschworen, findet man doch zwischen all den raumlosen Köpfen und Büsten einen Jüngling, der in ein rundes Wasserbecken schaut. Das ist zweifelsfrei Narziss, der zumindest seit dem 15. Jahrhundert inbegrifflich mit der Malkunst verbunden war, weil er doch sein Spiegelbild in einer Weise verführerisch fand, in der die Maler gern ihr Publikum faszinieren würden.

Das Werk mag heute wie ein Spielzeug wirken; es überzeugt durch seinen intimen Charakter und die glückliche Erhaltung mit dem Lederschnitt-Behälter. Zu seiner Zeit bot es eine Summe oder eine Art Resümee von dem, was sein Schöpfer zu leisten verstand. Es ist damit eine Art Kern für eine Kunst, die wir nur aus ganzen Bildern, nicht aber in ihrer Quintessenz zu fassen bekommen.

Dazu beleuchtet das Leporello aus Schloss Ambras einen der besonders faszinierenden Momente der spätmittelalterlichen Kunst: Es ist ein spätes Zeugnis dessen, was man gemeinhin als Schule des Königs Wenzel bezeichnet. In dieser Eigenschaft erweist es sich als eine Art Summe dessen, was die böhmische Kunst seit den Zeiten Kaiser Karls IV. und Peter Parlers zustande gebracht hat. Zugleich bildet es eine Art von Scharnier zur späteren Malerei des 15. Jahrhunderts. Es bringt auf den Punkt, worum es in den neuen Anstrengungen zu einer stärker der Natur verbundenen Kunst in erster Linie geht: um Köpfe und deren Ausdruck.

Dem Publikum ist das Werk seit langem in Wien vorenthalten, weil die Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums neu geordnet wird. Auf ein paar Ausstellungen - Kunst um 1400, Wien 1960, und Die Parler, Köln 1978 - wurden das Etui wie die Täfelchen von Tausenden bestaunt. Doch nur selten hat man sich mit dem Werk gründlicher beschäftigt. Nach dem berühmten Aufsatz, den Julius von Schlosser 1903 vorgelegt hat, und der sorgfältigen Arbeit von Artur Rosenauer aus dem Jahre 1962, die aber ungedruckt blieb, fehlt es an einer sorgfältigen Bearbeitung, wie sie Robert Scheller in seinem Überblick zu mittelalterlichen Musterbüchern 1995 eingefordert hat.

Diese Bearbeitung in einem gründlichen Kommentar soll die erste vollständige Farbwiedergabe in einem Faksimile bieten, das zugleich den geradezu spielerischen Reiz des offenbar vollständig erhaltenen Ensembles sinnliche erfahrbar machen soll!

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